Marcus Gundling
Wanting Some Ice and Getting All Cream
Feb 27 – Apr 16, 2010
Marcus Gundling (geboren 1976 in Würzburg) malt vom Malen, mithin von einer Disziplin, die dem gleichen Zeitraum entstammt wie Der Anachronist. Aus der unteren Hälfte eines Hochformats tritt ein Einwohner des 19. Jahrhunderts hervor. Das einst gebräuchliche Abwedeln der Konturen des Oberkörpers, das die Figur fließend in den meist ovalen Hintergrund einer Porträtaufnahme einbindet, führt auf der vergrößerten Bildfläche dazu, dass das Konterfei wie aus der Ferne auftaucht. Die somit räumlich übersetzte zeitliche Distanz wird verstärkt durch die aus Foto und umgebender Fläche geschnittenen rechteckigen Felder. Ihre Form wiederholt nicht nur die des Bildträgers. Vielmehr lässt sich das Rechteck als das Gesicht des 20. Jahrhunderts bezeichnen, ist es doch die Form, die den Großteil der in diesem Säkulum produzierten Waren bestimmte. In die Kunstgeschichte hingegen ging das Rechteck als rasterförmige Grundordnung ein, ein Schema, das seit den ersten Jahrzehnten Suprematismus und Konstruktivismus zur Emanzipation von der konventionellen Erscheinung verhalf. Gerade und rechter Winkel ragten wie Trittsteine aus dem Sumpf biomorpher Formen von Symbolismus und Jugendstil und versprachen den Weg zu übermenschlicher Abstraktion.
Die "gegenstandslose Welt", um mit Malewitsch zu sprechen, und die damit verbundenen soziopolitischen Hoffnungen, sind vergangen - zusammen mit ihrem Jahrhundert. Das Abstrahieren von der Natur durch das Auferlegen geometrischer Formen ist daher – nun ja, anachronistisch eben. Doch sind die Relikte der ungegenständlichen und somit "reinen" Malerei von einst im vorliegenden Fall mehr als kunstgeschichtliche Reminiszenzen. Die über Figur und Grund des Anachronisten verteilten Rechtecke öffnen Einblicke in den Herstellungsvorgang, dessen Schichten aus Tusche, Kunstharz und Grundiermasse auf der Holzplatte innerhalb der Einschnitte offen zutage liegen. Ihre gleich-gültige Verteilung über Foto und Grund verweist auf die materielle Gleichrangigkeit der Fläche und verdeutlicht so, dass die Arbeit keineswegs aus Gemeintem und Nicht-Gemeintem besteht. Der Titel Der Anachronist bezeichnet somit weniger die abgelichtete Person als vielmehr das gesamte Objekt. Der Anachronist ist das Medium des Tafelbildes – was auch immer darauf erscheint.
Demnach wäre theoretisch jedes Sujet geeignet, um die Antiquiertheit des gemalten Bildes zu demonstrieren, solang sich Motiv und Umfeld trennen lassen. Schließlich ist die durch die Unterscheidung von Figur und Grund erzeugte Gestalt die zentrale Bedingung, die uns eine visuelle Empfindung als Bild erkennen lässt. Doch Gundling hat kein beliebiges Motiv verwendet, sondern eines, das neben seiner Zeitlichkeit noch weitere Eigenschaften des Bildes veranschaulicht: Eine leichte Drehung des Kopfes und die einen Anflug von Geringschätzigkeit andeutenden Lippen ergeben einen eindringlichen Gesichtsausdruck. Setzen wir das Gesicht des Fotografierten mit dem Medium Bild gleich, sprechen den selbstbewussten und leicht skeptischen Blick nun also dem "Bild an sich" zu, erinnert dieses Zurückblicken an Ad Reinhardts Cartoon "What do YOU represent?"
Und ebenso wie Reinhardts gezeichnetes Gemälde sieht das Gesicht auf Gundlings Bild nichts, denn die Augen sind blind. Nur scheinbar blicken sie aus der Tiefe des Bildgrundes hervor, tatsächlich aber sind sie so in sich gekehrt wie Gundlings Arbeiten generell. Auch wo die Selbstgenügsamkeit nicht ganz so augenfällig ist, nehmen die Darsteller doch nie Blickkontakt auf. Die uns durch Massenmedien geläufige direkte Ansprache, die einem Am-Kragen-Packen gleichkommt - die ausgestreckten Arme, das Anstarren, -lachen, schreien, das Gerangel um die Aufmerksamkeit der Konsumenten - bleibt aus. Statt Beziehungsangebot herrscht Rückzug; in sich gekehrte Figuren signalisieren Selbstreflektion statt Spektakel: Gesenkte Köpfe, abgewandte Blicke, menschenarme Landschaften, wortkarges Mobiliar, sparsame Details – Gundlings Motive sind von eingeschränktem Mitteilungsbedürfnis.
So introvertiert wie die Motive ist auch ihre Darstellung: Was von weitem wie ein lebhafter Duktus scheint, entpuppt sich als Eigendynamik des Materials. Lange Belichtungszeiten verwischen Kanten, ausblühende Chemikalien, vergilbendes Papier und verwitterndes Holz strukturieren gleichmäßig gefasste Oberflächen.